Nils Freye    Line Jastram    Stepha Quitterer

Nils Freye

Projektskizze

Die Defragmentierung von Motiven, Figuren, Charakteren in zahllose Bruchstücke und schmale Flächen dekonstruiert in dem Moment auch den thematischen Überbau und stellt zum einen die Fragilität dessen heraus, zum anderen aber auch die Vielschichtigkeit und Hypersensibilität verhandelter Inhalte. Die Formsprache transportiert Fragen zur Identität, Sozietät, aber auch die relationale Verstrickung der Phänomene. Symboliken zeitgenössischer Krisen fokussieren bspw. Elemente eines (häufig wiederkehrenden) Rettungsrings als Zeichen der Hilfe und Zuneigung, aber auch als Objekt der Einsamkeit und Verlorenheit. Schwer zu identifizierenden Motive und Muster erzeugen zudem eine chaotische, zerrissene Stimmung, gehören jedoch auch innerhalb der Farb- und Bildgebung wie in der sozialen Wirklichkeit zusammen. Form und Objekt streifen sich regelmäßig, stehen in Verbindung zueinander, gleichzeitig spürt der Betrachter eine gewisse Distanz der leblos dargebotenen Objekte. Nebst jener gesellschaftlichen Dimension, die ich meist versuche anzureißen, ist es die eigene Unverbundenheit mit der (sozialen) Welt, sowie einhergehende Unklarheit und Zerstreutheit u.a. im Umgang mit (betroffenen) Menschen, die partiell aus der eigenen wahrgenommenen Wirklichkeit in die Werke hineinfließen. Auch die intrapersonale Suche nach dem Selbst und die Undeutbarkeit dessen finden sich insbesondere in der Ästhetik, aber auch in der Themenwahl wieder.

Klebeband rückt hier häufig in die Rolle des Protagonisten und strukturiert das Werk. Über Wochen teils durch den Zufall entstandene Maluntergründe auf Klebeband verbinden sich mit scharfen, gewollten Kanten und angedeuteten Motiven im Laufe der Zusammensetzung, diese bilden abstrakte Muster. Sonst nur für den Mülleimer gedacht, bilden Reste hier häufig die Grundlage oder die Akzentuierung der Gestaltungsmöglichkeiten. So entsteht mithilfe durchdachter Arrangements und nachträglicher Überarbeitung Neues aus ursächlich verworfener Farbe, um so die Verwertbarkeit, aber auch die Überproduktion und den Ressourcenverbrauch in der Gesellschaft aufzuzeigen.

 

 

 

Das Stipendium bietet mir Ruhe neu kreierte Techniken zu konkretisieren und umzusetzen. Besonders der neue, bisher für mich unerschlossene Ort, kann zu neuer Inspiration und Achtsamkeit hinsichtlich der kreativen Arbeit führen. Meine Arbeiten auf Klebeband als Fortführung meiner Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Unterschieden wie die Hautfarbe oder das Geschlecht defragmentieren bestimmte Symboliken und Zusammenhänge und lassen sie durch die spezifische Formsprache in einem neuen Licht erscheinen. Innerhalb des Stipendiums möchte ich abschließende Arbeiten zur blauen Serie mit Klebeband anfertigen. Die blaue Serie zur Migrationsthematik begann ich 2019; diese mündet nun in ihren Fortführungen in eine neu entstandene Herangehensweise und gewinnt somit an Interpretationsräumen. Jene Verbindung von zugrundeliegender Thematik und eines vielschichtigen, fragmentierten, teils linearen, teils gebrochenen Stils möchte ich im Zeitraum des Stipendiums verstärkt explorieren, um Ästhetiken und Bedeutungen intensiver in Verbindung treten zu lassen. Ausgewählte Beispiele erster Arbeiten dazu habe ich in diesem Dokument angehängt. Ziel des vier-wöchigen Aufenthaltes im Umland von Lüneburg ist es für mich also die vorgezeigten Exempel weiterzuentwickeln und auch thematisch zu beenden, da jene Stilrichtung die kommenden Jahre meiner Arbeiten prägen werden. Konkret sollen hier erste Werke entstehen, in denen zwei oder mehr Erzählungen/ Motive miteinander in Interaktion treten und durch die Klebetechnik sich einerseits bedingen, andererseits abstoßen.

Parallel dazu arbeite ich seit einem Jahr an der Serie Trash I, in der die Rückstände, Malunterlagen und Übungsflächen der Werke ebenfalls mithilfe von Klebeband zu neuen Bildern werden (auch hierzu ein Beispiel im Anhang). Angelehnt an Methoden des Upcyclings stehen schöpferische Prozesse hier sinnbildlich für die mangelnde Verwertbarkeit von Konsumgütern. Die kreative Kraft des Zufalls inspiriert Werke, die mit ökologisch nachhaltigen Sprühfarben gemalt und durch inszeniert verarbeitete „Reste“ einen neuen Glanz bekommen. Auch hierzu sollen Werke neu entstehen.

 

Beginn, Foto Bandelow

o.T. Foto Bandelow

im Atelier, Foto Bandelow

Line Jastram

Ich bin Line Jastram und seit 12 Jahren freischaffende Künstlerin und seit 11 Jahren Mutter von
mittlerweile 2 Kindern. Ich habe mein Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein mit dem
Diplom abgeschlossen und habe seit dem viel im Bereich Schmuck und Wandobjekt gearbeitet. Seit
einiger Zeit ist auch die Malerei hinzu gekommen. Alle drei Bereiche fließen jeweils auch in die anderen
hinein. Nun sind meine Töchter soweit, dass ich wieder unabhängiger werde und meinen Ideen und
Projekten mehr Raum und Zeit geben kann. Deshalb möchte ich mich hiermit liebend gerne für das
Stipendium der Atelier-Stiftung bewerben.
Aktuell bereite ich die zweite Phase meiner Serie >Beziehungsweisen< vor. Hierbei handelt es sich um
kleine Wandobjekte, die aus farbigen Holzscheiben zusammengesetzt sind (siehe Portfolio). Sie
abstrahieren aneinandergefügt verschiedene Formen von menschlichen Beziehungen. Zum Beispiel
kann ein Individuum einer Partnerschaft dargestellt sein, dass sehr stark zurückgedrängt wird oder zwei
starke Charaktere, die sich gegenseitig prägen, negieren oder gleichen. Im Objekt >Familien-Wolke<
habe ich die Erfahrungen des Lockdowns in unserem Familienleben verarbeitet. Wir sind, wie im Objekt
dargestellt, sehr stark zusammen gerückt um dem Gesamtgefüge >Familie< halt zu geben.
Nun möchte ich gerne eine intensive Zeit mit der zweiten Phase dieser Werkreihe beginnen.

Grafik Line Jastram

Nun möchte ich gerne eine intensive Zeit mit der zweiten Phase dieser Werkreihe beginnen. Dabei
interessiert mich die Kombination von drei Individuen. Denn hier entsteht zwangsläufig eine mittlere
Position. Diese tritt zum Beispiel bei Geschwistern oder in gesellschaftlichen Strukturen auf. Wenn wir
zwischen zwei extremen Positionen stehen und sie auszutarieren versuchen. Dies ist in der aktuellen
politischen Lage besonders der Fall. Die unterschiedlichen Formationen, die sich aus dieser Thematik
zur bildnerischen Umsetzung eignen, möchte ich gerne im Zeitraum des Atelierstipendiums erarbeiten
und in verschiedenen Dimensionen umsetzten. Hierbei möchte ich im Stil der bestehenden Serie
beginnen und im Prozess der Formsuche auch neue Größenverhältnisse erproben, dabei denke ich an
Schmuckelemente aber auch Objekte, die für den öffentlichen Raum geeignet sind.
Die Holzscheiben werden in meiner Vision zum Teil bis zur Sichelform reduziert, ähnlich dem Mond.
Deswegen möchte ich vorrangig eine Farbigkeit von Nachtblau und lichtem Grau bis Gelb wählen. Als
Ziel entsteht daraus eine Reihung verschiedener Konstellationen, die das Thema ästhetisch vermitteln
und weitere Assoziationen zu lassen.
Die neue Serie stellt einen wichtigen Baustein für mein diesjähriges künstlerisches Voranschreiten dar.
Bis Ende März befinde ich mich in einem intensiven Künstlerinnen Coaching bei der auch ein Katalog
entsteht. Eine konzentrierte Arbeitszeit im Atelier Ihrer Stiftung möchte ich gerne für die Ausarbeitung
meiner künstlerischen Position nutzen und auf eine tolle Abschlusspräsentation in Ihren Räumen
hinarbeiten. Im August habe ich anschließend auf der Kunst/ Mitte Messe in Magdeburg die Möglichkeit
allen Besuchern und meinen Gästen die Ergebnisse des Atelierstipendiums präsentieren zu können. Da
ich gerade voller Tatendrang bin, wäre ich Ihnen für diese Chance unglaublich dankbar.

Aus der Preisliste, Foto Bandelow

Debris, Foto Bandelow

Aus der Preisliste, Foto Bandelow

Stepha Quitterer

Madagaskar (AT) – Skizze

Madagaskar, fünftärmstes Land der Welt. Die Erde staubt rostrot, die Malariafliegen
zerpünkteln die Haut, auf den Gehsteigen Antananarivos sitzen die rippendürren
Menschen mit milchigem Blick auf einem Stück Pappe und warten, bis es zu Ende geht.
Die meisten von ihnen sind Frauen, die krausen Haare verfilzt, und von ihnen wiederum
halten die meisten ihre ebenso apathischen Säuglinge im Arm, umringt von
Orgelpfeifenkindern, die den milchigen Blick geerbt haben, und jedes hält mit
wenigstens einer Hand sich an der Mutter fest. Die schaut nur nach innen. Wer hier auf
der Straße sitzt, Tag für Tag, streitet nicht mehr mit den Straßenkötern um Abfälle. Wer
hier sitzt, zettelt keine Revolution an. Wer hier sitzt, ist mit Sterben beschäftigt.
Madagaskar, an Bodenschätzen fünftreichstes Land der Welt. Die Affenbrotbäume
strotzen stark in den indisch-ozeanblauen Himmel, die Lemuren stolzieren wie einst die
alleinherrschenden Kaiserinnen und die Sifakas tanzen wie die Huren in den
bretterbarackigen Kneipen. Doch wer einen Aye-Aye sieht, wird im Unglück ertrinken.
Die rote Erde schreit gemeuchelt und aus den Wäldern steigen wie heimliche
Liebesgrüße die Rauchzeichen derer, die illegal abholzen und zweifach Kohle machen.
Der Postkolonialismus wabert als giftgasige Schicht über die unasphaltierten Straßen,
die sich beim ersten Regenfall in unpassierbare Schlammlachen, in Flüsse verwandeln.
Dann entfällt die Reise von Antananarivo nach Fort Dauphin, tausend Kilometer, die
schon in der Trockenzeit drei Tage und einen vergewaltigungs- und überfallgefährlichen
Umstieg im banditenbesetzten Hinterland dauern. Verbindung entfällt. Bis die Regenzeit
vorbei ist. Das Kolonialgas hält die am Boden, die am Boden bleiben sollen. Erst ab den
höheren Zonen lässt es sich frei atmen. Auf den Yachten der Eliten, beispielsweise.
Derer, die für die internationalen Bergbaukonzerne die Beine ihres Landes breit machen.
Geldkoffer ermöglichen Gesetzesänderungen, und Gesetzesänderungen ermöglichen,
in die Umweltschutzzonen hineinzugraben. Beim Abbau von Ilmenit wird Uran
herausgeschwemmt. Wer klug ist – und in den Management-Etagen ist man es – spart
sich die kostenintensive Aufbereitung und Entsorgung. Wer klug ist, leitet das
radioaktive Wasser in die nächsten Flüsse oder Seen. Dort schwimmen dann die Fische
mit den Silberbäuchen nach oben, und das sieht hübsch aus und glitzert, wenn die
Morgensonne ihre Strahlen über die Seen schickt.
In einem Land, in dessen Wellblechdörfern ab Sonnenuntergang Ruhe und Dunkelheit,
also Stromsparen herrscht, ein französischer Konzern seit kolonialen Zeiten das einzig

erhältliche Trinkwasser verkauft und selbst in den Rain-Shower-Duschen der schicken
Touristenhotels nur ein Eimer mit Wasservorrat und Schöpfkelle steht, weil Wasser für
die Sterblichen hier nur einmal die Woche aus den Leitungen kommt, sind Flüsse und
Seen zum Trinken, Waschen und Fischen da. Und wer nicht klug ist, weil er weder Lesen
noch Schreiben kann, der kapiert auch nicht, warum der See plötzlich ein Silbersee
geworden ist.
NGOs verzeichnen einen Anstieg der Missbildungen bei den Geburten. Aber wer den
Mund zu laut aufmacht, wandert ins Gefängnis und geht dabei nicht über Los. Dasselbe
gilt für Journalisten und die paar wenigen, die trotz aller Konsequenzen den
Straßenprotest mit Plakaten oder Bannern wagen. Wer einmal im madagassischen
Gefängnis war, bekommt den Pestilenzgestank nie wieder mehr aus der Nase und die
Träume nie wieder mehr schön. Und die Nachbarin, in deren Hostel keine Betten,
sondern Auquarien für die nicht genehmigte Langusten-Zucht stehen, übernimmt die
Nachbetreuung für alle Protestler. Denn der Bergbaukonzern bringt schließlich
Arbeitsplätze. Oder etwa nicht?
Die Hahnenkampfwetten finden am Strand statt und ein irischer Umweltaktivist kämpft
an einsamer Front – gegen seine Alkoholsucht und gegen den europäischen
Bergbaukonzern. Er schmuggelt unter Lebensgefahr die Wasserproben außer Landes,
um in US-Laboren endlich Beweise in Petrischalen zu bekommen. Er legt sich mit
Hafenmitarbeitern an, die tonnenweise Glimmer und Kobalt auf die Containerschiffe
laden und in Kauf nehmen, dass vierjährige Kinder in die Schächte kriechen, um mit
bloßen Fingern zu graben und früher oder später am Methan zu sterben. Er schläft mit
Frauen, die nicht die seine sind, die wartet oben im Norden mit den zwei Kindern auf ihn
und will ein normales Leben mit Veranda und Backgammon. Er aber lebt als David und
gegen Goliath. Dabei weiß er genau, dass die Goliaths nur Zähne im Haifischgebiss
sind. Reißt du einen raus – was unmöglich genug ist – wächst der nächste nach. Und
während er sich an Europa die Zähne ausbeißt, rücken längst die Chinesen vor und
bringen Himmel, Erde und Menschheit für alle, die ihnen Geld oder Gold schulden.
Indessen funkeln die Glasfassaden in London, Konzernsitz, und Brüssel, EU-Sitz. Eine
Journalistin wird hineingezogen in etwas, von dem sie keinen Schimmer hat. Obwohl der
Schimmer, den sie als Lack auf den Nägeln, als Schatten auf den Lidern und als
„Obsidian“ auf dem Handykorpus trägt, aus Madagaskar kommt. Man kann ihr nicht
verdenken, dass sie keinen Schimmer hat. In den Managementetagen unternimmt man
alles, damit die Welt voller Schimmer und ohne Schimmer bleibt.


(Basierend auf wahren Begebenheiten. Für Madagaskar AT unternahm ich 2019 und
2023 Recherchereisen nach Madagaskar)

                                                                                                      Quelle: stephaquitterer.com

phantastische Lesungen

Foto Bandelow

Jan Thomas Bandelow

                                                                                                  Warum das Wasser nicht heiß wird  

                                                                                                                                                                                                                                           Foto Bandelow