Stepha Quitterer

Madagaskar (AT) – Skizze

Madagaskar, fünftärmstes Land der Welt. Die Erde staubt rostrot, die Malariafliegen
zerpünkteln die Haut, auf den Gehsteigen Antananarivos sitzen die rippendürren
Menschen mit milchigem Blick auf einem Stück Pappe und warten, bis es zu Ende geht.
Die meisten von ihnen sind Frauen, die krausen Haare verfilzt, und von ihnen wiederum
halten die meisten ihre ebenso apathischen Säuglinge im Arm, umringt von
Orgelpfeifenkindern, die den milchigen Blick geerbt haben, und jedes hält mit
wenigstens einer Hand sich an der Mutter fest. Die schaut nur nach innen. Wer hier auf
der Straße sitzt, Tag für Tag, streitet nicht mehr mit den Straßenkötern um Abfälle. Wer
hier sitzt, zettelt keine Revolution an. Wer hier sitzt, ist mit Sterben beschäftigt.
Madagaskar, an Bodenschätzen fünftreichstes Land der Welt. Die Affenbrotbäume
strotzen stark in den indisch-ozeanblauen Himmel, die Lemuren stolzieren wie einst die
alleinherrschenden Kaiserinnen und die Sifakas tanzen wie die Huren in den
bretterbarackigen Kneipen. Doch wer einen Aye-Aye sieht, wird im Unglück ertrinken.
Die rote Erde schreit gemeuchelt und aus den Wäldern steigen wie heimliche
Liebesgrüße die Rauchzeichen derer, die illegal abholzen und zweifach Kohle machen.
Der Postkolonialismus wabert als giftgasige Schicht über die unasphaltierten Straßen,
die sich beim ersten Regenfall in unpassierbare Schlammlachen, in Flüsse verwandeln.
Dann entfällt die Reise von Antananarivo nach Fort Dauphin, tausend Kilometer, die
schon in der Trockenzeit drei Tage und einen vergewaltigungs- und überfallgefährlichen
Umstieg im banditenbesetzten Hinterland dauern. Verbindung entfällt. Bis die Regenzeit
vorbei ist. Das Kolonialgas hält die am Boden, die am Boden bleiben sollen. Erst ab den
höheren Zonen lässt es sich frei atmen. Auf den Yachten der Eliten, beispielsweise.
Derer, die für die internationalen Bergbaukonzerne die Beine ihres Landes breit machen.
Geldkoffer ermöglichen Gesetzesänderungen, und Gesetzesänderungen ermöglichen,
in die Umweltschutzzonen hineinzugraben. Beim Abbau von Ilmenit wird Uran
herausgeschwemmt. Wer klug ist – und in den Management-Etagen ist man es – spart
sich die kostenintensive Aufbereitung und Entsorgung. Wer klug ist, leitet das
radioaktive Wasser in die nächsten Flüsse oder Seen. Dort schwimmen dann die Fische
mit den Silberbäuchen nach oben, und das sieht hübsch aus und glitzert, wenn die
Morgensonne ihre Strahlen über die Seen schickt.
In einem Land, in dessen Wellblechdörfern ab Sonnenuntergang Ruhe und Dunkelheit,
also Stromsparen herrscht, ein französischer Konzern seit kolonialen Zeiten das einzig

erhältliche Trinkwasser verkauft und selbst in den Rain-Shower-Duschen der schicken
Touristenhotels nur ein Eimer mit Wasservorrat und Schöpfkelle steht, weil Wasser für
die Sterblichen hier nur einmal die Woche aus den Leitungen kommt, sind Flüsse und
Seen zum Trinken, Waschen und Fischen da. Und wer nicht klug ist, weil er weder Lesen
noch Schreiben kann, der kapiert auch nicht, warum der See plötzlich ein Silbersee
geworden ist.
NGOs verzeichnen einen Anstieg der Missbildungen bei den Geburten. Aber wer den
Mund zu laut aufmacht, wandert ins Gefängnis und geht dabei nicht über Los. Dasselbe
gilt für Journalisten und die paar wenigen, die trotz aller Konsequenzen den
Straßenprotest mit Plakaten oder Bannern wagen. Wer einmal im madagassischen
Gefängnis war, bekommt den Pestilenzgestank nie wieder mehr aus der Nase und die
Träume nie wieder mehr schön. Und die Nachbarin, in deren Hostel keine Betten,
sondern Auquarien für die nicht genehmigte Langusten-Zucht stehen, übernimmt die
Nachbetreuung für alle Protestler. Denn der Bergbaukonzern bringt schließlich
Arbeitsplätze. Oder etwa nicht?
Die Hahnenkampfwetten finden am Strand statt und ein irischer Umweltaktivist kämpft
an einsamer Front – gegen seine Alkoholsucht und gegen den europäischen
Bergbaukonzern. Er schmuggelt unter Lebensgefahr die Wasserproben außer Landes,
um in US-Laboren endlich Beweise in Petrischalen zu bekommen. Er legt sich mit
Hafenmitarbeitern an, die tonnenweise Glimmer und Kobalt auf die Containerschiffe
laden und in Kauf nehmen, dass vierjährige Kinder in die Schächte kriechen, um mit
bloßen Fingern zu graben und früher oder später am Methan zu sterben. Er schläft mit
Frauen, die nicht die seine sind, die wartet oben im Norden mit den zwei Kindern auf ihn
und will ein normales Leben mit Veranda und Backgammon. Er aber lebt als David und
gegen Goliath. Dabei weiß er genau, dass die Goliaths nur Zähne im Haifischgebiss
sind. Reißt du einen raus – was unmöglich genug ist – wächst der nächste nach. Und
während er sich an Europa die Zähne ausbeißt, rücken längst die Chinesen vor und
bringen Himmel, Erde und Menschheit für alle, die ihnen Geld oder Gold schulden.
Indessen funkeln die Glasfassaden in London, Konzernsitz, und Brüssel, EU-Sitz. Eine
Journalistin wird hineingezogen in etwas, von dem sie keinen Schimmer hat. Obwohl der
Schimmer, den sie als Lack auf den Nägeln, als Schatten auf den Lidern und als
„Obsidian“ auf dem Handykorpus trägt, aus Madagaskar kommt. Man kann ihr nicht
verdenken, dass sie keinen Schimmer hat. In den Managementetagen unternimmt man
alles, damit die Welt voller Schimmer und ohne Schimmer bleibt.


(Basierend auf wahren Begebenheiten. Für Madagaskar AT unternahm ich 2019 und
2023 Recherchereisen nach Madagaskar)